jiyu waza – Bedeutung, Formen und die Rolle des uke
Das Training im Aikido folgt meist einem ähnlichen Ablauf, beginnend mit aiki taiso (z.B. Aufwärm-, Dehn- und Atemübungen), gefolgt vom Üben der waza – also der Umsetzung und Anwendung der Prinzipien des Aikido in den verschiedenen Techniken. Der Abschluss einer Aikido-Einheit ist dann recht variabel gestaltbar; etwa mit kurzen Übungen zur Konzentration von Atmung und Geist sowie – ebenfalls beliebt – mit jiyu waza, der Anwendung “freier” bzw. beliebiger Techniken …
In der Praxis sieht das meist so aus, dass tori auf einen vorgegebenen, wiederholten Angriff, ausgeführt von uke/aite, reagiert. Wie diese Reaktion aussieht, bleibt tori überlassen. jiyu waza kann natürlich als zentraler Trainingsinhalt praktiziert werden, hat sich aber ebenso bewährt, um vorher Geübtes noch einmal Revue passieren zu lassen.
Video: aiki taiso am Beginn des Trainings
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Die Bedeutung von jiyu waza
Folgende Schriftzeichen bilden zusammen den Begriff jiyu waza: 自 由 技. Die ersten beiden, 自 (ji: das Selbst) und 由 (yoshi: Grund, Begründung), ergeben zusammen genommen jiyu, den Begriff für Freiheit (自由). waza (技) bedeutet Technik. Man kann die Zeichenkombination also mit “freie Technik” übersetzen. Alternativ dazu existiert auch der Terminus jiyu geiko (自由 稽 古), was soviel wie “freies Üben” bedeutet.
Zur Abgrenzung sei erwähnt, dass neben jiyu waza bzw. jiyu geiko auch noch das sogenannte randori (乱取り; wörtlich: das Chaos nehmen, Freiheit begreifen) im Aikido – und in anderen budo-Stilrichtungen (insbesondere im Judo) – existiert. Der Unterschied besteht darin, dass bei letzterem meist auch die Art des Angriffs frei gewählt werden kann. In der Aikido-Praxis kommt der Begriff randori eher selten zum Einsatz.
Die Rolle des uke
Stellt man sich so eine Übungssituation dann vor, sieht es so aus, als läge der Gutteil der Handlungsverantwortung auf Seiten des tori. Ist doch er es, der den Angriff aufnehmen, sich für eine Technik (möglicherweise unter Zeitdruck) “entscheiden” und diese möglichst korrekt ausführen soll. Gegen diese Sichtweise ist auch nichts einzuwenden. Vernachlässigt wird aber oft die Rolle, die uke währenddessen spielt.
Ukes Verantwortung besteht nämlich darin, einheitlich korrekte und ernst zu nehmende Angriffe abzuliefern, dabei den Fluss des Übens nicht zu unterbrechen, sich gemäß dem Prinzip von ukemi selbst ausreichend zu schützen und dabei dennoch jede Technik, die tori zur Anwendung bringt, möglichst neutral – d.h. nicht prediktiv, aber auch nicht blockierend – aufzunehmen bzw. entsprechend darauf zu reagieren.
Sind mehrere uke im Einsatz, kommt noch dazu, auch deren Bewegungen auf der Matte zu beobachten, um sich nicht gegenseitig in die Quere zu kommen. All das erfordert letztlich von uke im Vergleich zu tori fast noch mehr Einsatz und Aufmerksamkeit. Daraus könnte man sogar schließen, dass jiyu waza eher als Übung für uke gedacht ist, denn für tori.
Video: Ausschnitte von jiyu waza am Ende einer Trainingseinheit
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Einer gegen mehrere …
Im Aikido übt man jiyu waza in unterschiedlichen Konstellationen: Einerseits kann in kumi waza (組: kumi, bedeutet Paar, Team) trainiert werden. Ein uke greift dabei fortwährend ein- und denselben tori an.
Hinzu kommen noch Formen mit mehr als einem Gegenüber: Dazu zählen futari– bzw. ninin – (二人: zwei Personen/Menschen/Angreifer), sannin – (三人: drei Angreifer) yonin– (四 人: vier Angreifer) und goningake (五 人: fünf Angreifer) bzw. ganz allgemein taninzugake (多人 数 掛 け) für mehrere Gegner. In jedem Fall greifen die uke nacheinander einen tori an.
多, ta: viele
人, nin: Personen
人数, ninzu: eine Anzahl von Personen
多人数, taninzu: eine große Anzahl von Personen;
掛 け, gake: in der Mitte sein, umringt sein
… oder von mehreren festgehalten
Ebenfalls gebräuchlich sind die Begriffe in Kombination mit tori/dori (取り). Dabei handelt es sich um genau dieselben Schriftzeichen, wie jene, die den “Aufnehmenden” – also tori, der uke gegenübersteht – bezeichnen.
Video: Beispiele für sannintsugake und futarigake mit Shioda Gozo Shihan
In der Praxis bedeutet das, dass bei ninin dori (sannin dori, yonnin dori, etc.) zwei Angreifer tori in der Regel gleichzeitig mit Fassen und Festhalten konfrontieren. Tamura Nobuyoshi Shihan unterschied bei der Formulierung sannin gake auf der einen und sannin dori renzoku waza (連 続: fortgesetzt, wiederholt, in Serie) auf der anderen Seite.
Übrigens, der Vollständigkeit halber: hitori waza (一 人 技) bezeichnet das Training mit einer Person, also alleine.
Video: Beispiel für futarigake mit Chiba Kazuo Shihan
Bei der Übungsform “einer gegen mehrere” hat sich bewährt (bzw. wird das im Allgemeinen – etwa bei Prüfungen – angenommen), dass mit ryo kata dori – also dem Fassen beider Schultern des tori von vorne – angegriffen wird. Im Prinzip ist aber jeder Angriff zulässig bzw. kann vom jeweiligen sensei vorgegeben bzw. der Situation entsprechend angepasst werden.
Video: futari- und taninzugake mit Tamura Nobuyoshi Shihan
Mit bloßen Händen oder bewaffnet
Das Beschriebene beschränkt sich natürlich nicht nur auf te waza (手 技; wörtlich: Handtechniken bzw. waffenlose Techniken). Ebenso können jiyu waza bzw. taninzugake als buki waza (武 器 技: Waffentechniken) mit aiki ken, aiki jo oder tanto geübt werden.
Video: Kanshu Sunadomari Shihan gegen fünf Angreifer mit bokken (gonin dori)
https://youtu.be/qK2C8QmixAk?t=4m21s
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uke (受け): Empfänger einer Technik; jener, der etwas aufnimmt, nutzt etc.; vom Verb ukeru (受ける): auffangen, erhalten, bewahren, retten, erleiden; auch gleichbedeutend mit aite (相手): Partner, Gegenüber, Gegenpart, Gegner;
tori (取り): Aufnehmender, Sammler (取: nehmen); vom Verb toru (取る: ergreifen, nehmen, aufnehmen, wählen, fassen; auch nage (投げ): Werfender; shite (仕手): Ausführender
Quellen:
Hademitzky, Wolfgang: Kanji und Kana. Die Welt der japanischen Schrift in einem Band. Lernbuch und Lexikon. München: Iudicium Verlag GmbH, 2012.
Taylor, Michael W. (2004): Aikidō terminology. An essential reference…
jisho.org (2016)
wadoku.de (2016)
Anmerkung des Autors: Die von mir verfassten Artikel möchte ich keinesfalls als ultima ratio verstanden wissen und ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr wünsche ich mir, damit einen Beitrag zu einem Nebeneinander von Interpretationen bzw. einer lebendigen Auseinandersetzung rund um Budo leisten zu können. Ich möchte auch alle Leser höflich einladen, zu kommentieren, kritisch zu hinterfragen, zu redigieren, zu ergänzen usw. Herzlichen Dank.