Gedanken zu “shihō nage” (四方投げ)
Eine der wohl prominentesten Techniken im Aikidō ist shiho nage (四方投げ), im Deutschen häufig mit Vier-Richtungs-Wurf bzw. Wurf in vier Richtungen übersetzt. Das verkürzt allerdings den eigentlichen Bedeutungsumfang – wohl aus praktischen Gründen. Laut O-Sensei Ueshiba Morihei stellt nämlich shiho nage sogar “das Fundament von Aikidō” dar (Shioda 2010).
Ein Blick auf die Schriftzeichen und deren Kombination erlaubt einen genaueren Einblick:
四 (shi/yon): die Zahl vier
方 (kata): Richtung, Person, Alternative
Daraus ließe sich ableiten, dass die Technik in vier Richtungen ausgeführt werden kann, ebenso könnte man von einer Situation ausgehen, in der Angriffe aus vier Richtungen (gleichzeitig) kommen können. Die Kombination der beiden Zeichen birgt aber – wie so oft im Japanischen – eine noch eindeutigere Erklärung:
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四方 steht nämlich für die “vier Himmelsrichtungen” bzw. “vier Kardinalpunkte”: Norden, Süden, Westen und Osten. Jedoch geht das japanische Verständnis darüber hinaus. Katsuaki Asai Shihan erklärte etwa beim Jubiläumslehrgang des Slowakischen Aikidōverbandes im Oktober 2014 in Bratislava, dass unter diesen vier Richtungen im japanischen Begreifen immer alle Richtungen gemeint seien. Das würde beuteten, dass shiho nage treffender als Wurf in alle Richtungen zu übersetzen wäre.
Werfen in alle Richtungen
Und tatsächlich ist es möglich, die Technik nicht bloß in den klassischen Formen als omote waza und ura waza auszuführen, sondern man kann uke tatsächlich in vier, acht, oder eben beliebig viele Richtungen werfen, je nachdem wie man den Eingang variiert bzw. uke zu bewegen vermag.
Die Schriftzeichen für nage (投げ) bedeuten schließlich (wie auch in vielen anderen Techniken: z.B. irimi nage, kaiten nage, koshi nage) Wurf oder der Fall und leitet sich vom Verb 投げる (nageru: werfen, fallen) bzw. etwas abstrahierter von 流れる (nagareru) ab, was soviel wie fließen bzw. strömen bedeutet.
Laut Shioda Gōzō Sensei, Gründer des Yoshinkan-Aikidō, ist shiho nage u.a. deshalb so wesentlich für Aikidō, weil damit einerseits das gewaltfreie Brechen des Gleichgewichts sowie das Strecken des Körpers von uke geübt werden könne. “Wird der Schwerpunkt des Gegners kontrolliert und seine Kraft weiter in die richtige Richtung geleitet, kann man ihn nach Belieben lenken.” (Shioda, 2010) Genau das sei der Kern von shiho nage. Erst danach folgt der eigentliche Wurf.
Exkurs zu shiho giri (四方切り):
Auch bei der Arbeit mit dem Holzschwert (bokken) gibt es eine Übungsentsprechung zum waffenlosen shiho nage. Mit shiho giri trainiert man das Schneiden zunächst in vier, dann in acht und schließlich in alle Richtungen. Dabei wechseln einander Körperdrehung und kiri otoshi (fallender Schnitt; entspricht dem Angriff shomen uchi mit bloßen Händen) ab.
切り (giri ): Schnitt (von 切け, kiru: schneiden)
落し (otoshi): das Fallen, auch: die Falle (beinhaltet 落: Ausfall, Lücke, Ende, Ausgang)
Quellen:
Shioda, Gōzō (2010): Aikidō Shugyō.Taylor, Michael W. (2004): Aikidō terminology. An essential reference…
en.wiktionary.org (2015)
jisho.org (2015)
wadoku.de (2015)
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